Die Schrift

Übersetzung des Alten Testaments von Martin Buber
und Franz Rosenzweig von 1929

Bibelübersetzung

Klagelieder 3

[1] Ich bin der Mann, der das Elend besah unterm Stabe Seines Überwallens. [2] Mich trieb steten Ganges er in die Finsternis, da Licht nicht mehr ist, [3] wiederkehrend wandte er, gegen mich nur, seine Hand all den Tag.. [4] Er zerfaserte mein Fleisch und meine Haut, zerbrach mein Gebein, [5] verbaute mich, umzirkte Giftzeug und Ungemach, [6] in Verfinstrungen setzte er mich wie die von Urzeit her Toten, [7] umzäunte mich, daß ich nicht hinaus kann, beschwerte mich mit Erzketten. [8] Wie ich auch schreie und flehe, umstopft hat er mein Gebet. [9] Mit Quadern zäunte meine Wege er ab, verkrümmte meine Steige. [10] Ein lauernder Bär ist er mir, ein Löwe in Verstecken. [11] Er wirrte meine Wege und spaltete mich auf, verstarrt machte er mich. [12] Er spannte seinen Bogen und stellte mich dem Pfeile als Ziel, [13] in die Nieren entsandte er mir die Söhne seines Köchers. [14] Ein Gelächter ward ich all meinem Volk, ihr Klimperliedlein all den Tag über. [15] Er sättigte mit Bitternissen mich, flößte mir Wermut ein, [16] meine Zähne machte er am Kiese sich malmen, in Asche zerrte er mich nieder. - [17] Du verwarfst meine Seele, vom Frieden hinweg, das Gutgeschick mußte ich vergessen. [18] So sprach ich: »Schwand meine Dauer und mein Erharrtes von IHM her, [19] muß das Gedenken meines Elends und meines Schweifens, der Wermut und des Giftzeugs [20] gedenken, gedenken meine Seele und in mir sinken, - [21] dieses lasse ins Herz ich mir kehren, um des willen harre ich: [22] SEINE Hulden, daß sie nicht dahin sind, daß sein Erbarmen nicht endet.« [23] Neu ists an jedem Morgen, groß ist deine Treue, [24] »Mein Anteil ist ER«, spricht meine Seele, »um des willen harre ich sein.« [25] Gut ist ER zu denen, die ihn erhoffen, zu der Seele, die ihn sucht. [26] Gut ists, wenn still einer harrt auf SEINE Befreiung. [27] Gut ists dem Mann, wenn in seiner Jugend er ein Joch trug. [28] Er sitze einsam und still, wenn Er es ihm auflegt, - [29] er halte seinen Mund in den Staub hin: »Vielleicht west eine Hoffnung!« [30] Er halte seine Wange hin dem, der ihn schlagt, er sättige sich an der Schmach. [31] Denn mein Herr verwirft nicht für immer, [32] denn betrübt er, erbarmt er sich nach der Größe seiner Huld, [33] denn nicht aus Herzenslust demütigt er und betrübt die Menschensöhne. [34] Daß einer unter seine Füße tritt alle Gefangnen des Landes, [35] daß einer das Recht eines Mannes beugt dem Antlitz des Höchsten zugegen, [36] daß einer dem andern seine Streitsache krümmt, sieht es mein Herr etwa nicht? [37] Wer ists der sprach und es ward, daß nicht mein Herr es geböte? [38] Fährts nicht vom Munde des Höchsten aus, die Bösgeschicke und das Gute? [39] Was hat der lebende Mensch zu klagen? jedermann über seine eigene Sünde! [40] Prüfen, erforschen wir unsre Wege und kehren wir um bis zu IHM hin, [41] tragen wir unser Herz auf den Händen dem Gottherrn im Himmel zu! [42] Wir, wir waren abtrünnig und widerspenstig, du, du hast nicht verziehn. [43] Du schirmtest im Zorne dich ab und du verfolgtest uns, du würgtest und schontest nicht, [44] mit der Wolke schirmtest dus um dich ab gegen das Herzudringen eines Gebets. [45] Du machtest aus uns Kehricht und Wegwurf den Weltstämmen mittinnen, [46] all unsre Feinde rissen ihren Mund über uns auf. [47] Schrecknis und Schrunde ward uns, das Zerbersten und der Zusammenbruch. [48] Von Wasserbornen überfließt mir das Auge über den Zusammenbruch der Tochter meines Volks. [49] Mein Auge verrinnt, nicht ists zu stillen, da keine Erschlaffungen sind, [50] bis vom Himmel nieder ER lugt und sieht. [51] Mein Auge spielt meiner Seele mit um alle Töchter meines Volks. [52] Mich jagten, jagten wie einen Vogel, die mich grundlos befeinden, [53] sie schweigten meinen Lebensgeist in der Grube und walzten auf mich einen Stein, [54] sie schwemmten mir Wasser übers Haupt, - ich sprach zu mir: »Ich bin abgeschnitten«. [55] Ich rief deinen Namen an, DU, aus der untersten Grube, [56] du hast meine Stimme gehört: »Nimmer entziehe dein Ohr meinem Atemstoß, meinem Hilfeerflehn!« [57] Du warst nah am Tag, da ich dich rief, du sprachst: »Fürchte dich nimmer!« [58] Du strittest, mein Herr, die Streite meiner Seele, du löstest mein Leben aus. [59] Du sahst, DU, mein Gekrümmtsein: »Rechte um mein Recht!« [60] Du sahst all ihre Rachgier, all ihr Planen gegen mich, [61] du hörtest ihr Schmähen, DU, all ihr Planen wider mich, [62] das Lippenschwert derer, die gegen mich stehn, ihr Gemurmel all den Tag über. [63] Ihr Sitzen und ihr Aufstehn, blicke darauf: ich bin ihr Klimperliedlein! [64] Das Gefertigte wirst du auf sie kehren lassen, DU, nach dem Tun ihrer Hände, [65] wirst ihnen Verkrustung des Herzens geben, deinen Fluch ihnen, [66] wirst im Zorn sie verfolgen und sie vernichten von unter DEINEM Himmel hinweg.